Colectivo Los Ingrávidos

So 20. Oktober 2024 - Di 22. Oktober 2024 20:00
Österreichisches Filmmuseum, Metro Kino Wien

MONOGRAPHIE / Viennale

Eine Kooperation von Viennale und sixpackfilm, zusammengestellt von Daniela Zahlner und Dietmar Schwärzler.

Programm 1: TRANCE
mit Konzert/Live Act – JUNG AN TAGEN  
TEOCALLI, 2024, 40:45min 
20.10.2024, 19.00 Uhr, Filmmuseum

TEOCALLI zählt zu den jüngsten Produktionen des auf Sampling & Recycling-Techniken basierenden und stark wuchernden Werkes von Los Ingrávidos. Der Film wird im Rahmen der VIENNALE mit Live-Musik von JUNG AN TAGEN (seit 2016 beim Label Editions Mego) präsentiert, die Einbindung von lokalen Musiker:innen vor Ort ist Teil der kollaborativen Praktiken des Kollektivs.

In der für Los Ingrávidos charakteristischen Bildsprache, eigenes wie gefundenes Filmmaterial zu remixen, enthält TEOCALLI u.a. Ausschnitte aus ihren Filmen Guerras Floridas, Danza Solar, Nahual, diverse Super8-Homemovies oder aber Aufnahmen eines bekannten Wandgemäldes von Diego Rivera, das die Geschichte Mexikos von der Antike bis in die Gegenwart und die vielen Kämpfe gegen Fremdherrschaft zeigt. Das Auge als Indikator der Wahrnehmung oder das Puzzleteil sind sprechende, wiederkehrende Bildelemente.

Das Wort Teocalli bezeichnet eine aztekische Pyramide, einen Tempel für religiöse Rituale. Während die Fragmentierung und Zerlegung des analogen Materials bei Los Ingrávidos die Trance mit Verweisen auf schamanische Traditionen sucht, baut JUNG AN TAGEN polyrhythmische, psychoakustische und dissoziative Anordnungen. Der gemeinsame Nenner liegt im Rituellen, der Trance. Ein synästhetisches, krachendes Feuerwerk für Auge & Ohr.
(Daniela Zahlner, Dietmar Schwärzler)        

Programm 2: POLITICS
Extractivistas, 2016, 1 min
Coyolxauhqui, 2017, 10 min
Impressions for a Light and Sound Machine, 2014, 7 min
Has visto? / Have you seen?, 2017, 7 min
Transmission / Misframing, 2014, 4 min
Batalla, 2019, 5 min
Olympia, 2018, 7 min
After América, 2021, 7 min
Brussels, 2024, 3 min
Colonial transfer, 2020, 7 min
21.10.2024, 16.30 Uhr, Metro - Historischer Saal

Inspiriert von den historischen Avantgarden, verstehen Los Ingrávidos ihr Filmschaffen als gesellschaftspolitische Praxis, die methodisch via Eingriffe ins Film- bzw. Archivmaterial, Auseinandersetzung mit den Mythologien, Agitprop, Demonstrationen und sozialen Protesten zum Vorschein tritt. In Programm 2 stehen v.a. die hohe Zahl an Femiziden, Morden und Entführungen, Übergriffe der Polizei und des Militärs in Mexiko im Zentrum, aber auch welche Spuren amerikanische und europäische Eroberungszüge im (westlichen) Denken hinterlassen haben.

COYOLXAUHQUI ist in der aztekischen Mythologie der Name der Göttin des Mondes, die – so die Erzählung – von ihrem Halbbruder zerstückelt wurde und deren Kopf er in den Himmel schleuderte, wo er seitdem als Mond um die Erde kreist. Ein stakkato montiertes Trance-Gedicht, in welchem die patriarchalische Geschichte des Landes bereits in der kulturellen Konstruktion der indigenen Hochkulturen verwurzelt ist und der Film diese mit der Gegenwart verknüpft. IMPRESSIONS OF A LIGHT AND SOUND MACHINE präsentiert die intensive, herzzerreißende und insistierende Anklage Los Muertos von María Rivera, die zugleich den staatlichen Umgang mit der Gewalt gegen Frauen, aber auch Kinder, Jugendliche und Männer anprangert. Fehlende strafrechtliche Verfolgungen, keine öffentliche Entschuldigungen von Vertreter:innen der Politik, vielfach nicht als Femizide anerkannte Morde und repressive Gewalt gegen Aktivist:innen sind Teile des Problems. Eine vielschichtige, auch formale Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Facetten der visuellen Repräsentation der Opfer zeigen HAVE YOU SEEN?, TRANSMISSION / MISFRAMING, BATALLA und OLYMPIA. Während HAVE YOU SEEN? Transparente mit Gesichtern von vermissten Personen, getragen von Familienmitgliedern oder Freund:innen bei Demonstrationen in den Vordergrund rücken, tauchen in TRANSMISSION / MISFRAMING die von Gewalt gezeichneten Fotografien der Opfer in Boulevard-Medien nur im zu hörenden Gespräch auf, zu sehen ist eine von Ameisen getragene Fotografie der Täter, mexikanische Soldaten die einen Massenmord begingen. In BATALLA wiederum leuchtet ein animiertes Blumenfeld mit der mexikanischen Ringelblume, die zu Ehren der Toten gepflanzt wird. Der Film referiert auf den nachwievor ungeklärten Angriff der Paramilitärs und der Polizei auf eine Ausbildungsstätte für Grundschullehrer:innen am 26. September 2014 in der südmexikanischen Kleinstadt Iguala, worauf 43 Personen „verschwanden“. Der Student Aldo Gutiérrez Solano war einer davon, er liegt bis heute im Koma, das Geräusch des Beatmungsgerätes läuft auf der Tonspur. Mexiko galt als erstes Land des globalen Südens, in dem die olympischen Spiele 1968 ausgerichtet wurden. In OLYMPIA sind u.a. Archivbilder der Eröffnungsfeierlichkeiten durch einen kreisförmigen Bildausschnitt zu sehen, der durch die Suchbewegung ein Zielfernrohr einer Schusswaffe suggeriert: 10 Tage vor dieser Eröffnung, am 2. Oktober 1968 schlugen paramilitärische Organisationen und die Polizei, mit dem Massaker von Tlatelolco Proteste der Studierenden und der Zivilbevölkerung nieder. Mit Agitprop-Elementen, Künstlicher Intelligenz und Computeranimationen knüpfen sich AFTER AMÉRICA, BRUSSELS und COLONIAL TRANSFER die Einflussnahme der kolonialen Feldzüge und populären Bildpolitiken auf die Geschichte Mexikos vor, aber auch die darin implizierten, prägenden Denkmuster. (Daniela Zahlner, Dietmar Schwärzler)

Programm 3: SHAMANIC MATERIALISM
Guerras floridas, 2021, 4 min
El Nido del Sol, 2021, 5 min
Coyote, 2023, 16 min
talk
Danza solar, 2021, 4 min
TLÁLOC, 2015, 11 min
Visión de Anáhuac, 2019, 1 min
Sensemayá, 2021, 7 min
talk  
22.10.2024, 18.30 Uhr, Filmmuseum

Die Herstellung und Erfahrung von Trance beim Filmemachen und -schauen ist eine zentrale Strategie im politischen Anliegen des mexikanischen Kollektivs Los Ingrávidos. Trance als schamanische Technik und ancestral wisdom manifestiert sich in der Arbeit am Film und mit dem Material: Rhythmisch vereint, durch in-camera-editing oder Flicker, sind Feuer und Filmkader, Kakteen und Kosmos, Farben und found footage. GUERRAS FLORIDAS, EL NIDO DEL SOL und COYOTE sind drei jüngere Arbeiten auf 16mm, die einen Referenzrahmen zu indigenen und mesoamerikanischen Wissen über Land, Pflanzen und Himmel aufmachen. In GUERRAS FLORIDAS, das in der Kamera montiert wurde, fließen Texturen von Blumen und einem verzierten Totenkopf ineinander. Die auch in anderen Filmen wiederkehrenden gold-orangen Blumen, campasúchil (Marigold), sind jene, die auch die Altäre des Día de los Muertos säumen; das Motiv der runden Scheiben ist Sonne, Mond und Tortilla zugleich: oft in Überblendungen, evozieren sie ein kosmisches Fließen und Tanzen der Frames. Von beschleunigenden Trommeln begleitet, breitet sich das „Nest der Sonne“ in farbiger Solarisation über die Filmbilder aus. In COYOTE bewegt sich die Kamera suchend durch Felder von Mais, späht durch Gräser, findet ferne Berge. Rhythmisch stockende Zooms und Pans lassen Pflanzen, Erde und Steine gleichzeitig nah und fern erscheinen; beobachtend, wachsam. Ein Heulen geht durch die Wälder, wir befinden uns auf der Spur des Coyoten.  

Die Sonne/Mond-Kreise in DANZA SOLAR sind stumm und beinah abstrakt wie Animationen der Visuellen Musik der 1920er Jahre. Bald werden die Kreise zu Suchscheinwerfern und erspähen tanzende, in einer Tracht der Anden gekleidete Menschen auf einer Hochebene. Der gezeigte Tanz ist Super8 Archivmaterial, das (wiederholt auftauchende) Motiv der tanzenden Sonne ist auf 16mm gefilmt. TLÁLOC ist der aztekische Gott des Regens, im gleichnamigen Film ist gefundenes Material geloopt und händisch mit Farbe übermalt. VISIÓN DE ANÁHUAC zeigt eine gespenstische Ansicht auf eine Stadt aus der Vogelperspektive: Anáhuac ist das Nahuatl Wort für „Land nahe am Wasser“ und der Name für das aztekische Gebiet an der Stelle des heutigen Mexico City. Der Sound erweckt Anáhuac unheimlich zum Leben… oder setzt es in Flammen? SENSEMAYÁ ist ein kaleidoskopischer found footage Trip, die Musik mit demselben Titel stammt vom mexikanischen Komponisten Silvestre Revueltas, und basiert auf einem Gedicht des kubanischen Dichters Nicolás Guillén – ein Lied zum Töten einer Schlange. In den Worten des Colectivos: Shamanic Materialism is a Mesoamerican spell unleashed. (Daniela Zahlner, Dietmar Schwärzler)