Romanes
Eine Verhörsituation. Junge Leute blicken in die Kamera. Etwas befangen. Teilweise amüsiert. Sie geben Auskunft: ihr Alltag, ihre Freunde, ihre Arbeit. Oftmals keine Arbeit. Der Wunsch nach Arbeit, "irgendeiner" Arbeit, einer eigenen Wohnung, einer Familie. Ernste Momente, getragen von einer gewissen Scheu vor der Kamera - und gebrochen durch das spielerische Vergnügen an der Gesprächssituation. Die Grenze zum Bildraum ist undicht. Irgendwo im Off gibt es offenbar MitspielerInnen, bei denen die Interviewten durch gelegentliche Seitenblicke Vertrauen tanken. Als MitspielerInnen outen sich sehr bald auch die Interviewer in diesem Frage-Antwort-Spiel, das zwischen freundschaftlicher Provokation und wissendem Einverständnis pendelt.
"Wie alt sind Sie?", wird die Romana, ein Mädchen im frühen Pubertätsalter höflich gefragt. "Ich? ... Siebzehen!" lügt sie lachend. "Was ist dein Hobby?" fährt der Interviewer, ins "Du" wechselnd, fort. "Mein Hobby?", überlegt, Romana ... "Aus dem Lager rausgehen". Auf die Frage, wo sie denn hingehe, folgt eine längere Nachdenkpause. Dann wendet sie den Kopf zur Seite und fragt: "Was bedeutet eigentlich ´Hobby´?"
Das Lager, ein Roma-Camp im römischen Stadtteil Centocello, ist die Normalität. Das Außerhalb ist ein "Hobby", von dem man nicht so genau weiß, was es ist. Oder ein Traum, der die Realität erfüllt. Die Realität ist eine triste Wohn- und eine desolate Arbeitssituation. Daher zeigen sich die Jugendlichen, die in diesem Videoprojekt selbst die Kamera in die Hand nehmen und die Fragen stellen, auch eher beim Träumen. Oder als aktive GestalterInnen einer sozialen Rolle, aus der sie im Spiel mit und vor der Kamera eher herauswachsen als sie wie ein Schicksal zu (re-)präsen-tieren. Wie vom Schicksal festgenagelt wirken hier lediglich die zwei römischen Wachmänner, die beide den gleichen Vornamen und beide eine 30jährige Dienstzeit hinter sich haben.
Als Romana die Frage, ob sie Italienerin sei, verneint, wird sie von der Fragestellerin - nun eine Frau - bestimmt zurechtgewiesen. Sie sei in Rom geboren, also Italienerin. Ernst wird das vorwiegend heitere Rollenspiel in ROMANES genau in solchen Momenten: wenn die Jugendlichen im Ensemble zu einem Ausdruck finden, der ihre Rolle in Frage stellt und damit neu definiert.
(Robert Buchschwenter)
Die Videoarbeit Romanes beruht auf 270 Minuten Videomaterial, das 2009 im Rahmen eines Video-Workshops mit Roma & Sinti Jugendlichen im Roma-Camp "villaggio attrezzato via dei gordiani" im römischen Stadtteil Centocello entstanden ist. Der 3-tägige Workshop bot den Teenagern im Alter von 16 bis 21 Jahren die Möglichkeit Erfahrungen und Eindrücke vor und hinter der Kamera zu sammeln. Das Medium "Video" erwies sich für die Teenagers als spannendes Format, bei dem sie in gegenseitigen Interviews, aber auch in kleine Inszenierungen ihre persönlichen Situationen und Erlebnisse in Bezug auf kulturelle, politische oder soziale Ausgrenzung innerhalb der italienischen Gesellschaft thematisieren und austauschen konnten. In kleinen Rollenspielen, in denen die Teilnehmer sowohl als Akteure, als auch als Kameramänner/-frauen in Erscheinung traten, konnten die Jugendlichen kreativ arbeiten und so persönliche Belange und alltägliche Situationen im Videomaterial verpackt zum Audruck bringen.
Hauptintention des Videoprojektes liegt in dem Versuch eine Kultur und Generation zu portraitieren, deren Protagonisten in Rom geboren sind, aber keinen Anspruch auf italienische Staatsbürgerschaft besitzen.
Mit der Videoarbeit Romanes soll den Jugendlichen eine Öffentlichkeit geboten werden, die Ihnen im Normalfall verwehrt bleibt. Im Anschluss an den Workshop wurde den Teenagern die für die Drehaufnahmen verwendeten HD-Videokameras zur freien Verfügung überlassen.
(Annja Krautgasser)
Romanes entstand nach einem Videoworkshop mit jugendlichen Roma und Sinti in einem Roma-Camp am Stadtrand Roms, in dem die Jugendlichen sich selbst zu ihrem Leben und Wünschen vor dem Hintergrund einer durch Ausgrenzung bestimmten gesellschaftlichen Position befragten.
(Geri Weber)
„We live in a shit camp.“ (DE) Rom, Roma, Romania, Romana
Nicht weit von Casilino 900 befindet sich das von zwei Wachposten kontrollierte Containerlager Villaggio Attrezzato, aus dem die Videobilder für Annja Krautgassers Video- und Kunstprojekt Romanes stammen. Dieses Lager ist offensichtlich keine aus der Not selbstproduzierte Siedlung, sondern eine staatlicherseits zugewiesene Zwangsmaßnahme.
Der kurze Film Romanes ist aus den 270 Minuten Material eines Workshops entstanden, in welchem die jugendlichen BewohnerInnen des Lagers sich gegenseitig vor der Kamera befragen und diese auch selbst bedienen. Sie erhalten und geben sich eine Stimme, ein Gesicht, einen Körper. Das Mädchen Romana beschreibt eine Realität, in der das Verlassen des Camps ihr Hobby bedeutet und eine unerreichte „Normalität“ außerhalb der Bewachung wartet, mit Haus, Auto und Familie, wie es Vesna artikuliert.
„Wir sind alle Italiener“, spricht eine Stimme hinter der Kamera, doch Romana empfindet es als in Rom geborene Roma nicht so. Ihr Platz, der Platz der Romanas, der Roma, der Rumänen oder exjugoslawischen Bürgerkriegsflüchtlinge, ist der Rest zwischen Schnellstraßen und Brücken, Autobahnen und Zugtrassen.
An anderer Stelle hatte ich über die inzwischen geräumte Roma-Siedlung Gazela geschrieben, deren Name von der gleichnamigen Autobahnbrücke in Neu-Beograd stammt und die Europa mit Asien verbindet. Außer den wohl tausend BewohnerInnen in ihren über zweihundert Behausungen kommt hier kaum jemand vorbei, es sei denn, es soll etwas verkauft, Müll rasch abgeladen, Leute verprügelt oder Molotowcocktails geworfen werden.
„Wir“ schauen freundlich vorbei. Die Kamera fertigt und festigt Selbstpositionierungen. Die Frage bleibt offen, ob dies wahrgenommen wird. Und was machen „wir“ da, mit unseren Augen, Kameras und Körpern? Bestätigen „wir“ nicht im Besuch das „ihr“?
Ein Schock ist der kurze Schwenk auf einen Mast, an dem in alle Richtungen ausgerichtete Videokameras befestigt sind. Das römische Roma-Lager wird dauerüberwacht; der Staat macht sich hier ein ununterbrochenes Bild. Indem die Kameras herabblicken, konstituieren sie kontinuierlich das „Andere“. Was zurückbleibt, sind HD-Videokameras, welche den Jugendlichen nach dem Workshop geschenkt wurden.
Jochen Becker
Romanes
2010
Österreich, Italien
16 min 10 sek
Dokumentarfilm
Italienisch
Englisch