Dacia Express
Ein Zug auf historischem Geleis. Dort wo heute der Dacia Express unterwegs ist, kreuzte einst der berühmte Orient Express. Das heißt: zwischen Wien und Bukarest, oder geopolitisch betrachtet, zwischen Ost und West. Vor diesem Hintergrund kommt einem unweigerlich Sidney Lumets Agatha-Christie-Adaption Mord im Orientexpress in den Sinn. Und tatsächlich: Wie dieses launige Krimidrama ist auch Michael Schindeggers Dacia Express vor allem eines: ein Kammerspiel in Bewegung, wenn auch von eindringlich dokumentarischem Zuschnitt.
Keine Abfahrt, keine Ankunft, kein Routenverlauf. Nicht die strukturelle Vermessung der Wegstrecke ist es, die hier im Vordergrund steht, sondern vielmehr die soziale Begegnung im Abteil. Reisende treffen auf Reisende. Menschen unterschiedlicher Nationalität und Gemütslage, angehalten vorübergehend gemeinsam zu reisen. Es wird geplaudert, getrunken, geschlafen, gewartet. Der literarische Topos von der Zugfahrt ist dabei allgegenwärtig: Die Landschaft fliegt an den Fenstern vorbei, während im Inneren die Zeit stillzustehen scheint. Die Gespräche, so beiläufig wie angeregt, schaffen willkommene Abwechslung, sorgen für neugierige Heiterkeit, aber auch für befremdendes Staunen. Die Abteile, sie geraten zu Mikrokosmen des globalen culture clashs.
In seinem ästhetischen Konzept ist Dacia Express von wertvoller Sparsamkeit bestimmt. Schindegger vertraut ganz auf die Wirkung seiner ProtagonistInnen. Sein Blick ist warmherzig, zurückhaltend und überaus persönlich. Auch er selbst gibt sich als Reisender zu erkennen, will mit seiner Kamera nicht anonym bleiben, sondern sich nachdrücklich involviert zeigen, in diese Wirklichkeit des flüchtig intimen Moments.
(Lukas Maurer)
Seit meinem Zivildienst in Bukarest (2000/2001) reise ich regelmäßig mit dem Zug nach Rumänien. Durch diese Fahrten und die dabei geschlossenen Bekanntschaften entstand die Idee diese einzigartige, abgeschlossene Welt mit ihren Reisenden filmische festzuhalten. Der Zug verbindet Regionen, die einander einmal sehr nahe waren und sich in den vergangenen achtzig Jahren weiter voneinander entfernt haben als sie es geographisch sind. Mit der EU-Osterweiterung bekommt diese Verbindung (ein Überbleibsel des legendären Orient-Express Paris-Istanbul) neue Bedeutung.
Als Ein-Mann-Filmteam mit einer handlichen Kamera konnte ic die Intimität im engen Liegewagen weitgehend wahren, wenn auch zugleich die Kamera, sich ihrer situationsverändernden Position bewusst, immer wieder zu spüren sein soll.
(Michael Schindegger)
Duisburg 2009 - Der Goldene Buchstabe - Jurybegründung (Preis (Auszeichnung))
Begründung:
Die europäischen Grenzen sind offen, wenn auch ein moldawisches Visum immer noch weniger gilt als eines aus Rumänien. Menschen reisen von Ost nach West und zurück, um Arbeit zu suchen, zu arbeiten, Familien zu besuchen oder als Touristen. Transportmittel und Transitraum zugleich ist der Zug, der die Reisenden mit altmodischem Rattern von Wien nach Bukarest begleitet. Kamera und Mikrofon zeichnen Gesichter und Geschichten auf: Gespräche über politische Verhältnisse, abwesende Kinder und gescheiterte Lebensentwürfe, das Verhältnis von Männern und Frauen in West und Ost und die Vorzüge des Bollywoodkinos.
Wir sehen und hören einen weiten Fächer europäischer Momentansichten, an einem Ort versammelt und von der Montage verdichtet zu einer gemeinsamen Nachtreise, bevor jeder der Reisenden wieder als Einzelner in seine Lebensroutine zurückkehrt.
Der Preisträger erhält eine Film- oder Videountertitelung in eine beliebige europäische Standardsprache für den prämierten Film oder ein Nachfolgeprojekt.
[i]7. November 2009, die Jury: Silvia Hallensleben, Christian Lüffe[/i]
Salzburg 09 - film:riss, Bester Dokumentarfilm, Jurybegründung (Preis (Auszeichnung))
DOKU JURYPREIS: Dacia Express (Michael Schindegger, Filmakademie Wien, 2008, 54 min)
Jurybegründung:
Der Film sucht nicht das Exzeptionelle, Aussergewöhnliche, Spektakuläre auf, sondern ganz normale Leute in ganz gewöhnlicher Situation. Wir sitzen im Dacia-Express, der täglich von Wien nach Bukarest fährt. In mehreren siebzehnstündigen Zugfahrten kommt der Filmemacher seinen Mitreisenden näher, plaudert mit ihnen, beobachtet sie, zeichnet ihr gegenseitiges Kennenlernen auf. Ohne sich auf ein bestimmtes Thema festzulegen, produziert der Film durch seinen Rhythmus eine fast aristotelische Einheit von Zeit, Raum und Handlung, die uns als Betrachter unmittelbar in die einzelnen Abteile versetzt, von denen jedes eine eigene Welt für sich darstellt. Das Prinzip der Reduktion des dokumentarischen Filmapparates auf das Wesentliche den Filmemacher und seine Kamera erweist sich dabei einmal mehr als eine große Bereicherung in Sachen Nähe und Intimität, und findet seine Fortsetzung auch in der Montage und im Sounddesign: einfach, und gerade dadurch konsequent und überzeugend.
Ganz unprätentiös entsteht so ein großer Europafilm, der die Distanz zwischen Wien und Bukarest ganz wörtlich immer wieder durchmisst und überwindet, um Menschen, ihren Geschichten und Plänen, ihren Urteilen und Vorurteilen zu begegnen, Differenzen zu behaupten und sie wieder zu widerlegen. Ein Film, der vorführt, wie spannend es auf der Welt sein kann, insbesondere dann, wenn man sich für die Menschen rundherum wirklich interessiert.
Dacia Express
2008
Österreich
55 min